[Anhang N] Ideenfutter Literatur: Jack aus den Schatten

Jack aus den Schatten ist ein Fantasy/Science-Fiction-Roman von Roger Zelazny, der im berühmten Anhang N aus dem AD&D-Spielleiterhandbuch von Gary Gygax explizit aufgelistet ist. Die Geschichte spielt auf einem Planeten (der Erde?), der über keine Eigenrotation verfügt. Daher wird eine Seite dauerhaft von der Sonne beschienen, die Tagseite, während die andere Seite in ewiger Dunkelheit liegt und lediglich von den Sternen beleuchtet wird, die Dunkelseite. Beide Seiten werden von der Dämmerungszone getrennt. Spezielle Himmelskörper sorgen dafür, dass die Tagseite nicht gegrillt wird und die Dunkelseite nicht in ewigem Frost liegt. Der Dualismus der Welt spiegelt sich auch im Verhältnis Wissenschaft zu Magie wider. Während auf der Tagseite die Wissenschaft das Maß aller Dinge ist, ist die Magie auf der Dunkelseite die bestimmende Macht. Der Protagonist Jack, ein Dunkelseiter, beherrscht Schattenmagie und nutzt diese für legendäre Diebstähle, die im Buch leider nur erwähnt werden – einen ausgeklügelten Raubzug bietet das Buch nicht.

Jack aus den Schatten besticht durch eine interessante Prämisse, Kreativität und den Reiz, einem ziemlichen Arschloch von Protagonisten zu folgen, dessen Schicksal aber mir als Leser dennoch wichtig war. Der Roman bleibt häufig vage und erscheint daher an manchen Stellen etwas wirr, wartet dafür aber mit tollen Einzelideen auf, die für mich den Hauptspaß beim Lesen ausmachten. Das macht den Roman zu einer Fundgrube an Ideen, die sich fürs Rollenspiel ausschlachten lassen. Im Folgenden stelle ich diese Ideen vor. Achtung, Spoiler voraus!

1. Idee: Schattenmagie

Magie ist in vielen Rollenspielen nicht magisch, sondern mechanistisch. Löbliche Ausnahmen wie Dungeon Crawl Classics sorgen durch Unberechenbarkeit für ein „magisches Gefühl“. Zwei weitere Möglichkeiten, Magie magisch wirken zu lassen, lassen sich anhand der Schattenmagie von Jack veranschaulichen.

Erstens: Das Wirken von Magie ist an klare, aber nichtriviale Bedingungen geknüpft. Jack kann lediglich unter Zuhilfenahme von Schatten zaubern. Überspitzt gesagt: Nicht Jack entscheidet, wann er zaubern kann. Seine Macht erhält er nicht einfach durch seine Abstammung oder Übung. Stattdessen entscheidet die Welt in ihrem aktuellen Zustand darüber, ob er zaubern kann. Das verleiht der Magie eine übermenschliche, kosmische Komponente und macht sie geheimnisvoll. Natürlich tut Jack alles, damit Schatten vorhanden sind, sodass er seine Magie wirken kann. Aber er muss erst dafür arbeiten. Auf das Rollenspiel übertragen liefert dies das Fundament für ein interessantes Magiesystem: Die Magier sind sehr mächtig, müssen aber die Bedingungen für die Nutzung dieser Magie schaffen. Dies stellt je nach Situation eine spannende Herausforderung dar und treibt somit das Spiel voran.

Zweitens: Die Magie hat ein starkes, interessantes Thema. Jacks Schattenmagie wirkt magisch (no pun intended), weil sie dieses interessante Thema aufweist. Ich finde es cooler, mich von Schatten zu Schatten teleportieren zu lassen oder die Schatten mit mir sprechen zu lassen, statt einfach ein magisches Geschoss abzufeuern. Im Rollenspiel ist das aus meiner Sicht ein Ritt auf der Rasierklinge. Eine starke thematische Eingrenzung der Zauber eines Magiers findet sich durchaus in einigen Rollenspielen, häufig in Form von Magieschulen. Hier gibt es die Pyromanten, dort die Temporalmagier, dann noch die Alchemisten usw. Das impliziert aber wiederum eine Kategorisierbarkeit von Zaubern, welche aus meiner Sicht (ob gewollt oder ungewollt) versucht, die Magie wiederum in die mechanistische Schiene zu stecken. Besonders problematisch wird es, wenn die jeweilige Ausrichtung eines Zauberwirkers – seine Magieschule – lediglich Kosmetik ist, also wenn beispielsweise ein Feuermagier und ein Blitzmagier den regeltechnisch gleichen Zauber verwenden, bloß dass bei einem Feuerbälle durch die Gegend fliegen und beim anderen Blitze zucken. Das verströmt für mich kein Flair. Es gibt jedoch positive Gegenbeispiele. Das Buch Wonder & Wickedness enthält beispielsweise für mehrere Arten von Magie Zaubersprüche, die allesamt sehr atmosphärisch und thematisch sehr gut eingegrenzt und abgegrenzt sind. Wenn wir uns den Roman anschauen, können wir aber noch weiter gehen. Warum sollte jede Art von Magie regeltechnisch gleich funktionieren? Warum nicht für jede Art von Magie ein eigenes Subsystem? Ja, das lässt sich regeltechnisch nicht fair für alle gestalten, aber dieses Designziel bin ich gerne bereit zu opfern, um dafür magische Magie zu erhalten.

2. Idee: Weltenbau mit Geheimnissen

Zu Anfang des Buches werden den Leser:innen nicht alle Details und Geheimnisse der Welt offenbart, auf der Jack sein Unwesen treibt. Dass es sich um eine dualistische Welt handelt, erfahren wir erst nach und nach. Dieses sukzessive Entdecken der Welt und das Lüften ihrer Geheimnisse funktioniert im Rollenspiel wunderbar. Zu Beginn mag die Spielleitung die Welt als generische Fantasywelt präsentieren, doch im Hintergrund gibt es einige Geheimnisse zu lüften, welche die Wahrnehmung der Welt fundamental verändern können. Beispielsweise könnten die Götter eigentlich korrumpierte KI-Systeme sein, die in Satelliten leben. Dies bietet mehrere Vorteile: Erstens muss zu Beginn des Spiels die Spielgruppe nicht mit Informationen zur Spielwelt zugeschüttet werden. Zweitens kann sich die Spielgruppe leicht in die Spielwelt hineinversetzen. Drittens wird der Erkundungsdrang der Spielgruppe belohnt. Viertens sorgt es für einen kleinen What-the-Fuck-Moment am Spieltisch, der sonst im Rollenspiel nur schwer zu erreichen ist. Fünftens können die Charaktere das Weltgeheimnis für sich nutzen und sind damit anderen Wesen in der Spielwelt weit voraus. Im oben genannten Beispiel der Satelliten könnten sie die KIs manipulieren, um Vorteile daraus zu schlagen. Jack macht etwas ähnliches. Auch er lüftet ein weiteres Geheimnis der Welt in Form der Existenz der Weltenmaschine im Inneren, welche für die immerwährende Nacht und den immerwährenden Tag sorgt. Dies verleiht ihm große Macht. Durch die Manipulation der Weltenmaschine stellt er seine Macht zu Schau (auch wenn dies schließlich zum Verlust seiner Macht führt). Das Spiel mit den Geheimnissen wird daher besonders für das hochstufige Spiel interessant. Allerdings muss man meines Erachtens Fingerspitzengefühl beweisen, damit sich die Spielgruppe nicht veräppelt vorkommt oder die Rollenspielrunde plötzlich in einem Genre operiert, was den Spielenden gar nicht zusagt. Daher funktioniert dieses Vorgehen vermutlich am besten in Gruppen, in denen sich die Personen schon lange kennen und untereinander wissen, was sie mögen und was nicht.

3. Idee: Fixe magische Machtbereiche von Fürsten/Zauberern

Im Roman stellt Jack unter den Dunkelseitern eine Ausnahme dar. Er kann seine Magie überall wirken, wo Schatten geworfen werden, während alle anderen Zaubererfürsten auf der Dunkelseite eingegrenzte, geographisch fixe Machtbereiche haben. Nur dort können sie ihre Magie wirken. Allerdings deutet das Buch an, dass sich diese Machtbereiche verschieben lassen, sodass es immer wieder zu Grenzstreitigkeiten kommt. Diese Idee lässt sich hervorragend fürs Rollenspiel klauen.

Zum einen liefert sie direkt ein Erklärungsmuster, warum bestimmte Zauberinnen oder Hexenmeister nicht schon längst die ganze Welt erobert haben. Zum anderen stellt die Idee ein interessantes Spielelement dar. Die Grenzstreitigkeiten selbst liefern bereits für schwächere Charaktere ein interessantes Konfliktpotential in der Welt. So könnte die Gruppe von Zauberern für diese Grenzkonflikte angeheuert werden. Im Rollenspiel mit einer herumreisenden Gruppe funktioniert das Grundkonzept mutmaßlich besser, wenn es nur NSC betrifft oder wenn es zwar möglich ist, außerhalb der Machtbereiche zu zaubern, aber nur unter größerem Aufwand, mit schwächeren Resultaten etc. Die Gruppe könnte gezwungen sein, zunächst einen dieser Machtbereiche zu erobern, um wirklich mächtige Magie wirken zu können, was eine reizvolle Herausforderung darstellt. Außerdem ist das Verteidigen oder gar Ausdehnen dieses Machtbereichs eine große Herausforderung. Das gibt dem Domänenspiel einen zusätzlichen Reiz.

4. Idee: Ein Edelstein als tragbares Gefängnis

Kommen wir für die nächste Idee von der Makroebene der Welt zur Mikroebene und damit zu einem einzelnen magischen Gegenstand im Buch, der sich 1:1 ins Rollenspiel übertragen lässt. Jack wird vom Herrn der Fledermäuse gefangengenommen und in ein merkwürdiges Gefängnis gesteckt, aus dem er nur durch eine List entkommt: Er wird in einem Edelstein gefangengehalten, den der Herr der Fledermäuse um den Hals trägt. Allein das ist schon ein fantastischer magischer Gegenstand, der sich geradezu fürs Rollenspiel aufdrängt und interessante Fragen liefert. Was ist, wenn die Gruppe in einer Schatztruhe nicht nur gewöhnliches Geschmeide, sondern solch ein merkwürdiges Gefängnis findet? Wer ist dort eingesperrt? Ist das Wesen dort zu Recht oder Unrecht eingesperrt? Was bietet das Wesen für seine Freilassung? Lassen die Charaktere das gefangene Wesen frei? Der große Vorteil dieses Gefängnisses im Gegensatz zum Beispiel zu einer Lampe mit einem Dschinn ist die Transparenz des Edelsteins. Dadurch ist von Anfang an klar, dass es sich um ein Gefängnis handelt. Außerdem ist die Kommunikation mit dem Gefangenen möglich.

Das Buch geht aber noch einen Schritt weiter. In seinem Edelsteingefängnis stattet der Herr der Fledermäuse Jack Besuche ab und trägt dabei den Edelstein an einer Kette am Hals. Das Edelsteingefängnis befindet sich also im Edelsteingefängnis befindet sich im Edelsteingefängnis befindet sich im Edelsteingefängnis … Es handelt sich um den Mise en abyme-Effekt. Der ist zugegebenermaßen schwierig spielmechanisch im Rollenspiel umzusetzen, bietet aber auf jeden Fall ein ungewöhnliches Erlebnis. Sollte die Gruppe gefangengenommen werden und ihr „Gefängnisdirektor“ törichterweise ihnen einen Besuch abstatten, können sie den Effekt nutzen, um zu fliehen und vielleicht sogar ihren Gegner selbst gefangen nehmen.

5. Idee: Zauberumhang und verwandelte Fledermäuse

Auch bei der nächsten Idee handelt es sich um einen magischen Gegenstand und ein cleveres mit ihm verbundenes Konzept. Der Herr der Fledermäuse, einer der oben erwähnten Gegenspieler von Jack, trägt einen magischen Umhang, aus dem er Fledermäuse beschwören kann. Das lässt sich ebenfalls 1:1 als magischer Gegenstand fürs Rollenspiel übertragen. Doch wie zuvor beim Edelsteingefängnis gibt es erneut eine weitere fürs Rollenspiel nutzbare Ebene.

Bei den Fledermäusen handelt es sich in Wahrheit um verwandelte Gegner des Herrn der Fledermäuse, die er solange in seinem Dienst hält, wie es ihm beliebt. Erst, wenn sie ihre vermeintliche Schuld abgetragen haben, verwandelt er sie wieder in Menschen zurück. Übertragen aufs Rollenspiel lassen sich daraus folgende interessante Konzepte ableiten:

Erstens: Die Gruppe stößt auf feindlich gesonnene Tiere, stellt aber recht schnell fest, dass es sich um verwandelte Menschen handelt. Dies könnten sie zum Beispiel leicht erfahren, indem sich die Tiere nach dem Tod zurückverwandeln. Einer der verwandelten Menschen könnte noch in seinen letzten Atemzügen entsprechende Hinweise auf den Zauber geben, der auf ihn gewirkt wurde. Das erzeugt ein interessantes Dilemma: Bekämpft die Gruppe konventionell die Tiere und hat eher leichtes Spiel, tötet damit in Wahrheit aber jede Menge Menschen? Oder versucht sie die Tiere einzufangen und anderweitig zurückzuverwandeln, was sogar eine Quelle neuer Verbündeter schafft?

Zweitens: Der oben genannte Umhang erlaubt es, gefangengenommene Gegner:innen in Tiere zu verwandeln. Die Tiere können jeweils eingesetzt werden, um Aufträge zu erfüllen. Jedoch verwandelt sich ein Tier nach einem ausgeführten Befehl wieder in einen Menschen zurück. Die erzeugt ebenfalls ein interessantes Dilemma: Nutzt die Gruppe die Tiere, um leicht eine Menge kleinerer Aufgaben zu erfüllen, lässt damit aber jede Menge ihrer Gegner:innen frei, welche diese Verwandlung und damit verbundene Demütigung sicherlich nicht sonderlich amüsant fanden? Oder verzichtet die Gruppe auf diese zusätzliche Macht, hält sich damit jedoch langfristig Gegner vom Leib?

6. Idee: Dualismus im Weltenbau, speziell im Magiesystem

Zu guter Letzt komme ich zurück zur Makroebene. Die Welt, in der Jack lebt, ist dualistisch aufgebaut. Auf der einen Seite befinden sich Wissenschaft und Licht, auf der anderen Seite Magie und Dunkelheit. Das ist ein sehr abstraktes Konzept, aus dem sich nicht unmittelbar Ideen fürs Rollenspiel ergeben. Spielt man jedoch mit diesem dualistischen Prinzip, ergeben sich auch hier Konzepte, die das Rollenspiel bereichern.

Der Licht-Dunkel-Dualismus könnte Magie auf simple Weise beeinflussen: Dunkelheit stärkt Magie. In tiefer Nacht oder einem stockfinsteren Dungeon ohne jegliche Lichtquelle wäre es demzufolge leichter, Magie zu wirken. Bei Dungeon Crawl Classics könnte beispielsweise ein höherer Würfel auf der Würfelkette verwendet werden. Doch so vorteilhaft dies für Magier ist, so nachteilig ist die Finsternis an sich. Außerdem könnte die Dunkelheit andere Fabelwesen, Vampire oder Geister stärken – ein typisches Motiv in der Mythologie, in Märchen und anderer Fantasyliteratur und doch erstaunlich wenig im Rollenspiel benutzt.

Wenn Dunkelheit Magie stärkt, schwächt grelles Licht sie wiederum. In der sengenden Mittagssonne verliert Magie an Wirkung – aber auch böse Wesen (wie in Mittelerde). Diese Umkehrung ist etwas kniffliger, schließlich ist es für die Charaktere sehr leicht, viel Licht zu erzeugen (im Gegensatz zu Dunkelheit), auch wenn das wiederum einige Nachteile mit sich bringt. Daher sollte ein wenig Fackelschein nicht ausreichen. Es muss schon grelles Sonnenlicht sein, das eine Wirkung auf die Gegner:innen entfaltet. Auch hier lohnt der Exkurs nach Mittelerde, Stichwort Trolle oder Kankra.

Ein Magie-Wissenschafts-Dualismus erfordert wiederum, dass die Welt überhaupt beides hat (und Magie nicht fortgeschrittene Wissenschaft ist). Mir gefallen Science-Fiction-Einsprenkler in meiner Fantasy sehr und ich mag es, wenn Magie und Technik klar voneinander getrennt und unterscheidbar sind. Doch wie kann ich mir diesen Dualismus zunutze machen? Wenn der Magie-Wissenschafts-Dualismus darin resultiert, dass Magie keine Wissenschaft beeinflussen kann und umgekehrt, sorgt dies für interessante Spielkonzepte. Wollen die Charaktere beispielsweise eine böse Erzmagierin ausschalten, könnten sie über nicht ausreichend magische Macht verfügen. Hätten sie jedoch einige wissenschaftliche Artefakte geborgen, könnten sie diese gegen die Erzmagierin einsetzen, ohne dass diese viel dagegen unternehmen könnte. Dann muss die Beschaffung und/oder Handhabung der Artefakte natürlich herausfordernd sein, sonst schnetzelt sich die Gruppe durch die Fantasywelt. Gute Anregungen diesbezüglich finden sich in Mutant Crawl Classics.

In Jack aus den Schatten steckt also ein Haufen Ideen, die sich fürs Rollenspiel klauen oder verfremden lassen. Sicherlich lässt sich noch mehr aus dem Roman ziehen, als ich das in diesem Artikel gemacht habe. Inwiefern hat euch der Roman inspiriert? Schreibt es gerne in die Kommentare.

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