[Anhang Huhn] Megan Whalen Turner – Der Dieb (Legenden von Attolia 1)

Über die Autorin

Die 1965 geborene US-amerikanische Autorin Megan Whalen Turner schätzt erklärtermaßen ihre Privatsphäre, daher gibt es über sie nicht so viele Informationen online. Ihr erstes Buch schrieb sie in einem freien Jahr, das ihr ermöglicht wurde durch das Guggenheim-Stipendium ihres Mannes, des Kognitionswissenschaftlers Mark Turner. Bekannt wurde sie 1996 durch ihren Roman „Der Dieb“ („The Thief“), auf den bis 2020 fünf weitere Romane folgten. Sie ist die Trägerin mehrerer US-amerikanischer Buchpreise und hat es gleich zweimal auf die Shortlist zum Andre-Norton-Award geschafft. Als eine ihrer Lieblingsautorinnen nennt sie unter anderem Joan Aiken … die ich sicher auch noch für den Anhang Huhn verwursten werde. 😉

Der Dieb

Der Dieb Gen rühmt sich damit, der beste seines Fachs zu sein und überall hinein- und herauszukommen, wie es ihm beliebt. Seine Großmäuligkeit hat ihm jedoch nicht viel Glück gebracht – wer hätte auch ahnen können, dass der Typ, dem er den zum Beweis seiner Behauptung gestohlenen königlichen Siegelstempel zu verkaufen versuchte, ausgerechnet ein Spion eben jenes Königshauses war? Der Kerker des Königs von Sounis erweist sich jedenfalls als ziemlich ausbruchssicher. Eine Chance, dem bitteren Schicksal zwischen dicken Mauern zu entgehen, bietet ihm ein einmaliges Angebot des Königs: Wenn er es schafft, ein außerordentlich wertvolles Artefakt für den König zu beschaffen, winkt zum Lohn die Freiheit.

Daher reist Gen in Begleitung des Hofmagiers Sophos, der beiden Lehrlinge des Magiers und eines Wächters über Eddis nach Attolia, um dort ein seit Generationen verschollenes Geschenk der Götter zu entwenden bergen.

Die Geschichte Gens wird aus der Ich-Perspektive erzählt, wobei der Hauptcharakter es durchaus zu genießen scheint, nicht nur sein Umfeld, sondern auch die Leser:innen hin und wieder an der Nase herumzuführen. Es macht Spaß, sein gewollt launisches Auftreten zu verfolgen und seine schnippischen Kommentare zum Geschehen zu lesen. Getreu dem Motto „Fünf Minuten dummstellen spart eine Stunde Arbeit“ macht er sich unterwegs wenig beliebt, hat aber dafür eine verhältnismäßig entspannte Reise. Was nicht heißt, dass er nicht tatsächlich über außergewöhnliches Geschick verfügen würde – er erfüllt die Ansprüche an einen kompetenten D&D-Schurken ziemlich gut … wenn er möchte. Spätestens am Ziel der Reise angekommen, wird das sehr deutlich.

Daneben spielt der Glaube an verschiedene Götter/Göttinnen eine relevante Rolle im Geschehen. Ich mag lange Hintergrund-Dumps zu Religionen im Allgemeinen nicht so sehr, aber hier sind sie sehr charmant erzählt und zudem für das Verständnis der Handlung relevant. Wirklich spannend fand ich in diesem Zusammenhang die länger laufende Diskussion zwischen dem Schriftgelehrten Sophos und dem mit mündlicher religiöser Überlieferung aufgewachsenen Gen darüber, welche die „richtige“ Überlieferung sei. Gibt es die „eine Wahrheit“ über die Götter oder ist der Glaube an die Götter das, was die Menschen daraus machen?

Alles in allem handelt es sich bei dem Roman um eine angenehme und moderne Sword-&-Sorcery-Erzählung, mit allem, was dazugehört – hinterlistige Schurken, mystische Zauberer, hartgesottene Kämpfer, Schwerter, Magie, alte Götter, neue Fehden und ein cooler Dungeon! (Die späten 1990er scheinen eine gute Zeit für Schurken gewesen zu sein – Gen erinnert mich wahnsinnig an Seregil aus Lynn Flewellings Nightrunner-Reihe, die ungefähr zur selben Zeit erschien, ohne dass eins vom anderen abgekupfert wirken würde. Flewelling … noch so eine Kandidatin für den Anhang Huhn!)

Rollenspielinspiration: Die limitierte Zeit im Dungeon

Die Lektüre des Fanzines „Grenzland. Open Tables, Nr. 2“ im Rahmen des 3. Fanzine-Wettbewerbs von System Matters brachte mich zu der Erkenntnis, dass Dungeons von einem Zeitlimit profitieren können. Ein solches Limit hält die Spielgruppe davon ab, akribisch und geistlos Stein für Stein umzudrehen und zwingt sie stattdessen dazu, relevante Entscheidungen zu treffen. (Jaja, die Erkenntnis ist wirklich nicht neu – aber bei mir hat sich durch die Spielberichte in diesem Zine ein Knoten im Hirn gelöst, danke dafür!)

Aufgrund der begrenzten Aufenthaltsdauer muss die Gruppe den Dungeon nach Ablauf einer bestimmten Zeit wieder verlassen. Darüber, wie viele Nahrungsrationen oder Fackeln sie mit in den Dungeon nehmen, können die Spielenden selbst verfügen. Ist es jedoch ein Aufenthalt im Dungeon aufgrund äußerer Einflüsse nur begrenzt lange möglich, wird die Zeit selbst zur Ressource – ein externer Faktor, den die Spielenden nicht direkt beeinflussen, sondern den sie nur managen können.

Im Projekt Grenzlande wird die Aufenthaltsdauer bestimmt durch die festgesetzte Länge des Spielabends, der stets außerhalb des Dungeons beendet werden soll, damit die nächste Gruppe wieder frisch starten kann. Dieser Ansatz legt das Zeitlimit außerhalb der Spielwelt fest – aber selbstverständlich lässt sich ein solches Limit auch in der Konstruktion des Dungeons selbst anlegen. Im Roman „Der Dieb“ kommt ein solcher Dungeon vor, der nur begrenzt lange betreten werden kann.

[Spoilerwarnung: Liebe Leute, es versteht sich von selbst, dass ich hier Aspekte des Dungeons spoilere, ne?]

Das Artefakt, das zu stehlen Gen beauftragt wurde, befindet sich in einer uralten Tempelanlage. Diese Anlage befindet sich unterhalb eines großen Flusses und ist daher zumeist geflutet. Sie ist nur betretbar, wenn der Fluss trockengelegt und das Wasser aus den Räumlichkeiten abgelaufen ist. Sobald der Fluss wieder fließt, läuft die Anlage allmählich wieder mit Wasser voll. Nur für jeweils drei Nächte im Jahr wird der Staudamm geschlossen, der den Fluss versiegen lässt. Gen hat also nicht viel Zeit.

Wie lange wagt es der Dieb, in den Morgenstunden auf der Suche nach dem zu bergenden Artefakt durch das tiefer werdende Wasser zu waten oder gar zu schwimmen? Die Erforschung einer im Grunde recht einfach aufgebauten Anlage wird zu einer nervenaufreibenden Angelegenheit, bei der jede Entscheidung schnell und präzise getroffen werden muss.

Ich liebe die Idee einer solchen zeitlichen Begrenzung des Aufenthaltes im Dungeon. Einzig das Verstreichen der Zeit muss getrackt werden, man spart sich gegebenenfalls jede Menge weiterer Ressourcentracker. Und je knapper die verfügbare Zeit wird, umso mutigere Entscheidungen muss die Spielgruppe treffen.

Wie sorgen eure Dungeons dafür, dass die Spielenden sie nur begrenzt lange untersuchen können? Füllen sie sich mit Treibsand, Rauch oder Lava? Brechen sie in sich zusammen? Lösen sie sich nach einer bestimmten Anzahl an Besuchen in Wohlgefallen auf oder wechseln sie die Dimension? Werden sie immer enger – oder immer weiter?

Links:

Wikipedia-Eintrag zur Autorin

Webpräsenz der Autorin http://meganwhalenturner.org/about/about.html

Ihre offiziellen Buchempfehlungen

Interview mit der Autorin darüber, was sie sonst noch so liest

Das Fanzine „Grenzland“ gibts auch online

2 Kommentare zu „[Anhang Huhn] Megan Whalen Turner – Der Dieb (Legenden von Attolia 1)

  1. Der traditionelle Weg, Zeit zur Ressource zu machen, sind streunende Monster, deren Auftauchen in gewissen Zeitabständen überprüft wird.

    Ich bin gespannt, was du irgendwann vielleicht über Tanith Lee schreiben wirst. 😉

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